“Manchmal habe ich das Gefühl, Blicke in mein von der Stasi dokumentiertes Leben verhalten sich wie eine Kettenreaktion: Sobald ich eine Seite aus den Akten anfasse, ergeben sich neue Querverbindungen und Fragen”, sagt Lothar Rochau… und legt im Mitteldeutschen Verlag ein Buch über seine deutsch-deutsche Lebensgeschichte vor. Was den 68-Jährigen, der sich ehrenamtlich im Verein Hauptsache Halle und als Ombudsmann der Stadt Halle (Saale) engagiert, bewegt:

Bei den Vorbereitungen für Ihr Buch haben Sie monatelang in den Akten der Stasi-Unterlagen-Behörde recherchiert – immer “zwischen dem Wunsch nach Klarheit und der Angst vor neuen Wunden”. Wie haben Sie die innere Balance gefunden?

Lothar Rochau: Ich habe mir immer wieder gesagt, es darf keinen Schlussstrich zu dieser unrühmlichen Vergangenheit in unserer Gesellschaft geben. Das Thema Staatssicherheit betrifft ja nicht nur einzelne Bereiche der Gesellschaft, sondern die ganze Gesellschaft. Auch wenn beispielsweise die Haltung der ostdeutschen Kirche zwischen „Widerspruch und Anpassung“ lag, so bezieht sie doch bis heute keine klare Haltung zu ihrer Stasi-Belastung.

Es gab immer wieder die Position von Kirchenleuten, zum Beispiel Manfred Stolpe, die ihre langjährige Kooperation mit der Stasi damit begründeten, Freiräume erhalten zu haben und vom SED-Regime bedrängten Menschen geholfen zu haben.

Das sehe ich anders – hier scheiden sich die Geister. Letztlich geht es gerade um das wichtigste Gut in Behörden und Körperschaften, nämlich um Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Sie galten in der DDR als Regimekritiker, wurden von Verwandten und Kollegen bespitzelt, im Roten Ochsen eingesperrt und über Chemnitz in die BRD freigekauft. Wie haben Sie diese Zeit mental “überlebt”? 

Lothar Rochau: Ich hatte damals zwar meine Kirche verloren – 1982 bin ich gekündigt worden – aber nicht meinen Glauben. Außerdem gab es nicht wenige mutige Menschen, die bereit waren, für eine offene Gesellschaft auch schwere persönliche Nachteile für ihr Leben in der DDR in Kauf zu nehmen.

Diese mutigen, vor allem jungen Leute aus der damaligen Offenen Arbeit in Halle-Neustadt haben mich mental in den schwierigen Zeiten „über Wasser“ gehalten. Außerdem war ich davon überzeugt, dass eine Gesellschaftsordnung dann ihre Daseinsberechtigung verliert, wenn eine Staatspartei das Macht- und Wahrheitsmonopol beansprucht.

Als Jugenddiakon in Halle-Neustadt tätig, hat Ihnen die Evangelische Kirche 1982 gekündigt. Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Kirche heute?

Lothar Rochau: Ich habe zu der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) ein gespaltenes Verhältnis. Einerseits ist die Aufarbeitung in meinem Fall noch nicht abgeschlossen, andererseits habe ich ein gutes Verhältnis zu einigen Kirchenleuten. Dankbar bin ich besonders der ehemaligen Bischöfin der EKM, Ilse Junkermann, und Professor Friedemann Stengel für ihre engagierte Arbeit zum Entstehen des Bußwortes der EKM im Jahre 2017.

Als Sie die Nachricht vom Mauerfall hörten, waren Sie gerade an der Nordsee und nahmen an einem Vorbereitungsseminar für eine Ost-West-Begegnung von Abiturienten teil. Noch am selben Tag haben Sie die Rückreise in Ihre Heimatstadt Halle (Saale) angetreten. Warum wollten Sie schnell zurück?

Lothar Rochau: Halle an der Saale war meine Heimat seit 1977 geworden. Hier lebten viele Menschen, mit denen ich befreundet war und die etwas bewegen wollten. Die von der Chemie so schwer gebeutelte, geschichtsträchtige Händelstadt hatte es verdient, nach 40 Jahren SED-Diktatur ihren alten Glanz wiederzuerlangen.

Sie sind heute wieder in der Kommunalpolitik aktiv, geben zudem Ihr Wissen an Jugendliche und Studierende weiter. Was treibt Sie an?

Lothar Rochau: Die besonderen Erfahrungen in der DDR-Gesellschaft. Noch heute leben viele der damaligen Täter und Opfer. Es gibt auch ein tief bis in die Familiengeschichten hineinreichendes verwurzeltes Schweigen. Und doch hat ja gerade die junge Generation Fragen und ein Recht, zu wissen, wie es damals war. Unser gemeinsames Ziel muss doch lauten: Alles dafür zu tun, dass eine 3. Diktatur auf deutschem Boden verhindert wird.

 

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