Dieser Leserbrief ist auch der Mitteldeutschen Zeitung am 1.1.2019 zugegangen:

 

Unsere Sicht auf das Gewesene und unsere persönliche Verantwortung in dieser Vergangenheit bestimmen – oft viel wesentlicher, als wir meinen – unser heutiges Denken, Reden und Handeln. Was wir zukünftig erwarten und was von uns für möglich gehalten wird, ist beeinflusst von unseren guten und schlechten Erfahrungen.

Nun war unsere Vergangenheit in der DDR weder schwarz-weiß noch grau, sondern es gab die ganze Bandbreite an Menschen und Haltungen. Da verboten sich schon Etikettierungen im Vorhinein. Nicht alle waren gleich aktiv oder passiv oder wurden gleich schuldig oder unschuldig, weder Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi (IM) noch die Christenmenschen, noch die vielen stillen Menschen, die auf Arbeit oder im Privaten oft mutig einer Politik der Furcht nach stalinistischer Manier täglich widerstanden haben.

Es gibt immer für das, was geschehen ist, individuelle Verantwortlichkeiten. Auch existierten in der ehemaligen DDR auf jeder Entscheidungsebene mehr Handlungsmöglichkeiten, als viele sich heute eingestehen wollen. Wir waren nie alternativlos. Entscheidend war die tägliche Auseinandersetzung um mehr Transparenz, Offenheit und Ehrlichkeit in einem System der Lüge und des Missbrauchs von Vertrauen. Dabei spielte die Sensibilität, die das Ungerechte, Belastende und Gefährliche überhaupt erst einmal wahrnimmt, eine große Rolle. Wäre diese Sensibilität nicht vorhanden gewesen, hätte es die Friedliche Revolution von 1989 nicht gegeben, wo Menschen ihre Angst vor der Diktatur einer Staatspartei und ihres Unterdrückungsapparates verloren haben.

Wie sagte mir bereits 1990 ein guter Freund: „Eine durch die Konspiration krank gemachte Gesellschaft kann nur durch eine radikale Offenlegung geheilt werden, nur die setzt den schmerzhaften Prozess der Heilung in Gang […].“

Genau diese radikale Offenlegung vermisse ich nicht nur bei Dr. Michael Schädlich und den vielen Spitzeln, die bis in die intimsten Bereiche meiner Familie und Freunde spioniert haben. Clever haben doch viele von ihnen auch nach 1990 diesen „Informationsvorsprung“ genutzt, um Karriere im neuen Staat zu machen. Ganz im Gegenteil zu den rund 250.000 ehemaligen politischen Häftlingen, die nicht selten heute mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu tun haben und auch noch allzu häufig von erbärmlichen Renten leben müssen.

Im Jahr 2019, im 30. Jahr der friedlichen Revolution, möchte ich den ehemaligen Mitarbeitern der Stasi zurufen, stellt Euch der eigenen Biografie, nicht nur rechtfertigend, sondern auch hinterfragend. Sucht endlich das ehrliche und offene Gespräch, die Fakten sind doch allzu oft bekannt.

Ich persönlich bin sehr dankbar für die vielen beeindruckenden Gespräche mit Schulklassen aus ganz Sachsen-Anhalt und darüber hinaus. Haben sie mir doch gezeigt, dass junge Menschen sehr wohl die prinzipiellen Unterschiede zwischen einer Diktatur und einer auch mit   Mängeln behafteten Demokratie erkennen können. Doch dazu braucht es Vorbilder, die bereit sind, ihre eigene Vergangenheit schonungslos offenzulegen.

Herrn Schädlich und den vielen anderen Inoffiziellen Mitarbeiter/innen der Stasi biete ich zum wiederholten Male das Gespräch über diese doch so prägende Zeit meiner Generation an.

Ein gemeinsames Zeitzeugengespräch im Roten Ochsen zu Halle (Saale) wäre ein geeigneter Ort.

Lothar Rochau, 1983 zu 3 Jahren Freiheitsentzug wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilt.

Zu „Eine Ära in Rot-Weiß“ und „Gewinner und Verlierer“, Thema: Stasi-Vergangenheit von HFC-Präsident Michael Schädlich, MZ vom 18. und 27. Dezember 2018